Russland: Petrosawodsk
[2012.08.31 13:46:06 | Russian Federation | no comments]
Mehr Schlagloch als Straße die Zufahrt nach Petrosawodsk. Zwei oder dreispurig – weiß der Teufel, die Markierung fehlt. Befahren werden vier, fünf Spuren plus Seitenstreifen, je nach dem. Lichtblick die Ampeln. Erstens: sie werden respektiert, nicht als Empfehlung wahrgenommen wie meist andere Verkehrszeichen. Zweitens: ein Countdown zeigt die Sekunden bis zur nächsten Phase. Sprint oder Stand sieht jeder sofort. Drittens: einheitliches, einfaches, klares akustisches Signal.
Das Hostel ist einfach und sehr sauber. Küche und Waschmaschine fehlen, Restaurant und Handwäsche angesagt. Teewassertemperatur in den Duschen, nicht regelbar. Heißwasserdesinfektion. Nötig nach 10 Tagen Wind, Wetter, Zelt.
Spaziergang durch die Stadt. Prunkbau oder Plattenbauruine, wenig Facetten dazwischen. Dafür viel Grünflächen, neben Lenin, Marx und Engels findet durchaus modernes Platz. Niesel vertreibt Lust auf spazieren und fotografieren. Ein Restaurant verspricht Abwechslung nach Spaghetti-Diät, Seele baumeln lassen bei ein paar leckeren Kwas (aus Brot hergestelltes typisches Getränk, alkoholfrei) und Bär im Brotmantel. Trostloser Regen. Den Ausflug zum Touristenklassiker Kischi (UNESCO Weltkulturerbe) um einen Tag verschieben, auf die Wettergötter hoffen.
Der späte Abend bringt die unangenehme, dunkle Seele Russlands. Handlungsort Hostel Petrosawodsk, 6 Bett Zimmer Nummer 12. Handelnde Personen vier Männer zwischen 30 und 60, zwei junge Frauen Anfang 20. Bereits leicht angetrunken als ich gegen 22 Uhr eintreffe. Einen Schluck Bier trinke ich mit, verweigere dann die weitere Teilnahme am Gelage, dusche, lege mich aufs Bett, Stöpsel im Ohr. Wortfetzten fliegen durch den Raum, ein kleiner Fernseher sorgt für Hintergrundrauschen, keiner schaut hin. Zwischendurch bittet die Dame von der Rezeption immer wieder um Ruhe, wird immer wieder ignoriert. Zwischen einer der jungen Frauen und dem ältesten Mann – bei mittlerweile deutlich betrunken – entbrennt ein Streit. Minutenlang, laut. Hände schlagen auf den Tisch, reißen die Frau vom Stuhl, schmeißen sie aus dem Zimmer. Wörtlich. Geschrei, Gebrüll, Gebrabbel auf dem Gang. Später. Die vier Männer sitzen nun ohne Frauen im Zimmer, trinken umso mehr. Jedes Mal wenn sie rauchen gehen schalte ich den Fernseher ab, jedes Mal schalten sie ihn wieder an, jedes Mal schaut keiner hin. Bis ich die Fernbedienung verstecke. Später. Der alte streitet sich mit einem der jungen. Die Rezeptionistin kommt, geht, der junge ohrfeigt den alten. Fünf, sechs Mal geht das so. Später. Ungefähr halb fünf. Drei sind übrig, einer hat aufgegeben, schnarcht trunken vor sich hin. Wieder explodiert die Lautstärke, sie fangen an aufeinander ein zu prügeln, unklar wer auf wen, hauen alkoholschwach daneben, stolpern über die eigenen Füße. Diesmal Glück für die Rezeptionistin, die drei sind zu voll um weiter zu streiten. Einer nach dem anderen klettert ins Bett, fällt wieder raus, rappelt sich auf, klettert wieder rein. In einer Kakophonie aus schnarchen, rülpsen, furzen, fluchen schlafe ich ein. Irgendwie, irgendwann. Russian way of Life.
Heinrich meint: "Boah, ich kann ja echt nachvollziehen dass man mal einen hebt. Aber es gibt doch gewissen Grenzen!! Und mal ehrlich: Jungs, sooo viel war das doch auch nicht, ich hab ja noch nicht mal wirklich was gemerkt! Aber was anderes: das Grünzeug um die Leninstatuen schmeckt echt leckerer als das andere. Ehrlich! Und die Elchinnen in den Städten… Huihui, die haben ganz schön hochhackige Hufe und kurze Felle"
BTW: die Russlandinfos sind online.
Russland: Apatity bis Petrosawodsk
[2012.08.23 19:06:22 | Russian Federation | 4 comments]
„40 Euro sind viel Geld“ steht auf dem Schild und informiert den potentiellen Schwarzfahrer über die möglichen Konsequenzen seines illegalen Tuns. Ich grinse, bin vermutlich der Einzige der das Schild versteht. Mit Dimitry stehe ich in einem alten Bus. Statt Linie Hanau – Bruchköbel nun Apatity – Kirovsk. Er möchte mir Felswände zeigen an denen er Sportkletterrouten einbohrt. Nicht gerade die üblichste Beschäftigung im Chibinen Gebirge nördlich vom Polarkreis. Eine gute Stunde schlagen wir uns durchs Gebüsch, stehen dann in einem verblockten, schmalen Tal. Hier ist Dimitrys kreativer Spielplatz, hier blüht er auf, hier fühlt er sich wohler als unten in der Stadt.
Unterwegs auf der M18. Lebensader in den hohen Norden. Asphaltiert – wenn nicht gerade gebaut wird. Und gebaut wird viel, auch mal 30, 40 Kilometer am Stück. Sumpfige Landschaft, flache Hügel, endlose Wälder. Mit jedem Meter südwärts wird der Wald „mehr“ Wald. Die vom langen Winter kleingezwungene Flora strebt nach höherem. Tundra wird zu Taiga zu Wald. 800 Kilometer die Strecke von Apatity bis Petrosawodsk, mit dem Rad Zeit genug die Veränderungen wahr zu nehmen, nicht zu erschrecken wenn da „plötzlich“ wieder richtige Bäume stehen.
Der Verkehr schwankt von heftig bis nicht vorhanden, von rücksichtslos bis rücksichtsvoll, vom stinkenden uralt Kamaz LKW bis modernsten Produkten deutscher Premiumhersteller. Hinter manch einer Windschutzscheibe (so vorhanden…) entdecke ich eine gezückte Kamera, kurzes Hupen, „Thumbs up“ oder freundliches Winken. Mehrmals täglich. Ausländische Kennzeichen sind die Ausnahme. Ein britisches Pärchen aus Sheffield lädt mich am Straßenrand kurzerhand zum Kaffee in ihr Wohnmobil, Dennis aus Deutschland – mit dem Motorrad unterwegs (www.eastbiker.de) – schenkt mir einen Kümmerling fürs Abendessen, eine Handvoll finnischer Fahrzeuge rauscht vorbei. Andere Radreisende auf der Strecke? Einer. Vladimir, Arzt aus der Umgebung von Moskau. Er umrundet in 10 Tagen den See Onego. Sein Jahresurlaub. Rad und Ausrüstung abgegriffen, wie so vieles hier.
Unbefestigte Wege führen in den Wald, dort finde ich meine Campingplätze. Weit weg von der Straße wenn möglich, nahe wenn Bärenwarnschilder herumstehen. Hoffentlich sind sie vom Verkehr genervt und bleiben tief im Dickicht. Nie ist die Straße außer Hörweite, Verkehr 24 Stunden, 7 Tage. Das ein oder andere mal stolpert ein Pilzsammler über mich – oder ich über ihn. Immer freundlich, selten einer Fremdsprache mächtig. Gelächter und ungläubige Gesichter wenn ich auf einer kleinen Karte meine Route zeige und auf das Rad deute. Unterhaltung mit Händen, Füßen und einem Salat aus deutschen, englischen und russischen Wörtern. Am wichtigsten und schönsten aber breites Grinsen und viel Lachen auf beiden Seiten. Jedes mal.
Heinrich meint: "NASCHDROVJEEEEEEEeeeeee!!!11!!"
(Heinrich hat sich vorgenommen jede Vodkasorte zu probieren die wir im Supermarkt oder магазин finden können. Leider wirkt sich das höchst negativ auf seine Kommunikationsfähigkeit aus. Auch sein Fell glänzt grad nicht mehr so...)
Russland: Murmansk
[2012.08.23 11:23:40 | Russian Federation | one comment]
Lippen schmal, Makeup dezent, Frisur extrem akkurat. Prototyp einer russischen Grenzbeamtin, direkt einem 70er Jahre Agentenfilm entsprungen. Drei, viermal vergleichen eisgraue, ausdruckslose Augen Passbild mit Wirklichkeit. Drei, viermal knallt ein Stempel. Bild und Wirklichkeit stimmen wohl ausreichend überein.
„Open, open, open, open“. Dabei deuten befehlsgewohnte Finger auf meine Packtaschen. Gründlich ist er nicht, eher neugierig interessiert, fragt in gebrochenem Englisch nach Route und Ausrüstung. Zwei Stunden, 25 Minuten später rollen die Reifen über russischen Asphalt. 25 Minuten Grenzkontrolle, 2 Stunden Zeitverschiebung. Moskauzeit.
Nach 15 Kilometer ein Kontrollposten, hier endet das Grenzsperrgebiet. Geharkter Sandstreifen, Stacheldraht, Bewegungsmelder, Kameras, Halogenstrahler. Der „Grünstreifen“ am Straßenrand für einige Kilometer. Für die erste Nacht verkrieche ich mich weit im Wald. Sehr weit. Unnötig. Auf den ersten 60 Kilometer zähle ich am nächsten Tag 6 Autos. Kaum verwunderlich, ist die Nebenstraße bisweilen Sandpiste.
Murmansk. Durch gefühlte 6000 pro Kilometer schlängelt sich ein großer Audi SUV. Nebenan am Steuer Iftikhar, Vertreter des „neuen“ Russlands. Erfolgreicher Businessmann, Besitzer zweier Fitnessstudios, eines Hostels, ein paar Apartments, Hoffnung auf einen hohen Posten in der Verwaltung. Er möchte sein Englisch verbessern, ich Murmansk kennenlernen. Iftikhar zeigt mir die Stadt, die Sehenswürdigkeiten, die versteckten Plätze, nebenbei erledigt er was er zu tun hat. Eine alte Radiostation mit grandioser Aussicht auf Murmansk, seine Studios, Monumente, Plattenbauten, Flugzeugträger, Baumärkte, Atomeisbrecher, Supermärkte, Restaurants, Computerläden, der Lieblingsgrillplatz hinterm Hügel. Tiefe Einblicke, bleibende Eindrücke.
Heinrich meint: „Oh herrlich! Die Elchdamen verteilen sich zwar etwas, dafür gibt’s aber ungestörte, weite Wälder mit sehr leckerem Grünzeug, eine Vodkaauswahl zum niederknien (3 volle Regale sind keine Seltenheit!) und Kippen zu sehr Elchfreundlichen Preisen… So kann Elch es aushalten.“
Norwegen: Tromsø bis Kirkenes
[2012.08.07 10:56:05 | Norway | no comments]
Campingplatzcafé Tromsø, später Nachmittag, Internetverbindung gut. Morgen geht es weiter. „There is a phone call for you“. So dämlich habe ich selten jemanden angeguckt. Die junge Frau von der Rezeption guckt genauso dämlich, streckt mir das Telefon hin. Am anderen Leitungsende Lisa, unterwegs mit Schwester Jule auf dem Rad, Oslo - Nordkap. Seit den Lofoten sind wir uns immer wieder über den Weg gefahren, waren auch auf dem Campingplatz, wussten dass ich noch einen Tag wegen meinem Visum bleibe. Kurze Story: heute Morgen weiter, Schlauch kaputt, Mantel kaputt, letzter Bus zurück nach Tromsø abgefahren, am Campingplatz anrufen, fragen ob ein rotbärtiger Typ mit Notebook rumsitzt, Treffer.
Ich fahre in die Stadt, Schlauch und Mantel kaufen, Auslieferung am nächsten Tag per Fahrradkurier, schnalle den Mantel oben aufs Gepäck. Ehrensache. Irgendwann am nächsten Mittag zwei Räder am Straßenrand, Lisa und Jule haben gerade zusammengepackt. Mantel und Schlauch montiert, fahrbereit. Zusammen weiter, abends Einladung zu Spaghetti.
Anstiege und Abfahrten im Regen, die Straße kürzt Landzungen ab, bevölkert von Fahrzeugen mit ausländischen Kennzeichen. Das Wetter nordisch wechselhaft, Glück mit dem Wind, nur schwach oder von hinten.
Am Nordkap. Auf einem Campingplatz ausruhen, sortieren, weiterplanen, schwimmen gehen auf 71° Grad Nord. Faulheit und die Wettervorhersage siegt, mit der Hurtigrute von Honnigsvåg bis Kirkenes. Zielgruppe: Kreuzfahrtaffine Menschen im Ruhestand. Ich falle auf, zu jung, zu lang der Bart, eine Fahrradtasche, keine Kabine. Gespräche kreisen um vergangene Zeiten, aktuelle Krankheiten, kurze Zukunft. Schlafen im Panoramasalon, grandioser Aussicht, sehr kurze Nacht.
Sonntag in Kirkenes. 4900 Seelen schlafen, Geschäfte, Cafés geschlossen. Im Naherholungsgebiet für zwei Nächte verkriechen, Kocher putzen, Hose nähen, große Fahradinspektion, Dokumente richten. Eine Nacht Couchsurfen bei Arve, Wäsche waschen, Pizza & Bier, quatschen, aufwärmen. Die letzten Tage waren kühl, feucht.
Nieselregen, dunkle Wolken auf dem Weg zur russischen Grenze. Ein Bus steht vor davor, die Passagiere machen Fotos, schauen ungläubig hinterher wie ich am „Schengen Border“ Schild weiterfahre, eben nicht umdrehe wie alle anderen. Der norwegische Beamte schaut kurz in den Pass, „Murmansk?“ „yes“ „have a nice Trip“. 200 Meter Niemandsland bis zu einem grauen Gebäude mit kyrillischer Beschriftung: Российская Федерация.
Heinrich meint: „Wenig Elche in dem Gebiet. Sehr wenig. Wir lassen uns halt nicht unbedingt mit Steuererleichterungen in den hohen Norden locken, saftiges Grün ist uns da wichtiger. Stefan jammert ein bisschen viel über das Wetter, der soll sich mal ein dickeres Fell zu legen, mir macht das schließlich auch nix aus. Und warum er ausgerechnet das blöde Schiff nehmen musste! 2 Tage lang musste ich hinterher mein Fell Putzen! Und hat er denn die Preise an der Bar nicht gesehen???“
Hinweis: die Norwegeninfos sind online.
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