Carretera Austral
[2013.03.18 20:33:34 | Chile | 4 comments]
Carretera Austral. 1350km lang, über 20 Jahre Bauzeit, überwiegend Schotter. Ab 1976 unter Diktator Pinochet durch den Urwald Patagoniens getrieben, heute Traumstraße und Herausforderung für Enduro-, Jeep- und Radfahrer. Im Süden eigentlich Sackgasse, bietet sich dem leidenswilligen Radler ein Zugang über einen schmal Pfad, eine miserable Schotterpiste und zwei Bootspassagen. Sieben Stunden Schinderei für 22 Kilometer. Einige Liter Schweiß, billiger Preis für unglaubliche Landschaft.
Was folgt erklärt die Bezeichnungen Traumstraße und Herausforderung von selbst. Die Landschaft bergig und flach, schroff und sanft, eng und weit, unbebaut und – selten – bebaut, leider oft eingezäunt. Feucht und trocken, grün und gelb, bewachsen und versteinert, geducktes Gebüsch und hohe Bäume, weite Wiesen und dichter Regenwald. Eingezwängte Flüsse und breite Ströme, leises plätschern und tosende Fälle, blaugrüne Flüsse und klare Bäche, Tümpel und Seen. Vergletscherte Kuppen und steinerne Zinne, Hügel und Felsmassive, sacht ansteigend und senkrecht aufragend. Die Straße Kies und Schotter, Sand und Schlamm, Lehm und Erde, selten Asphalt und Beton, allzu oft alles zusammen. Kurvig und gerade, steil und flach, schräg und gerade, wellig und eben, auf und ab. Wolkig und strahlend blau, trocken und klatschnass, Sonnenbrand und aufgeweichte Hände, schwitzend heiß und zitternd kalt. Und mehr, viel mehr.
Nach 50, 60km immer mal wieder ein kleines Nest, gebaut im letzten Jahrhundert, strenges Schachbrettmuster, eine Handvoll „Tante Emma“ und Krämerläden, manchmal eine Bäckerei, ab und an gibt’s Brot nur auf Nachfrage in irgendeinem Privathaus. Nur ein Ort fällt aus dem Schachbrett, Caleta Tortel, ganz auf Holz gebaut, keine Straßen nur hölzerne Stege, die Häuser auf Pfählen, Schotterstraßenanschluss seit 2003. Seit dem explodiert der Tourismus, neue, sauber lackierte Stege entstehen, schnieke Holzpavillons säumen das Ufer, an einigen Ecken rotten noch die alten Wege vor sich hin, zerfallen die ursprünglichen Häuser, werden durch neue, „schönere“ ersetzt die sich besser als Unterkunft vermieten lassen. Noch findet sich ein Rest des alten Charmes doch die Schwelle zur schnell zu konsumierenden, leb- und charakterlosen Touristenfalle ist nur noch eine asphaltierte Straße entfernt.
Dann sind da die Menschen, die Bewohner dieser Gegend, freundlich, aufgeschlossen, interessiert. Nicht selten wird zum Foto gerufen, nach Kontaktdaten verlangt, eine Flasche Wasser oder ein Wurstbrot gereicht und der Kopf geschüttelt warum man sich das mit dem Fahrrad antut, wo der Weg mit dem Auto doch schon so beschwerlich ist. Mal winkt es hinter einer Windschutzscheibe, mal hupt ein LKW, mal grüßt ein Gaucho lässig vom Pferd herab.
Und dann sind da die anderen Menschen, die Reisenden in dieser Gegend. Die Motorradfahrer die mal als Individualist, mal als geführte Reisegruppe aber immer grüßend vorbei donnern, die großen Wohnmobile mit Kennzeichen aus aller Welt die zum kurzen schwatz anhalten, manchmal einen Kaffee anbieten, meistens winkend vorbei zuckeln, die Backpacker die auf den nächsten Bus, den nächsten freundlichen Autofahrer warten, manchmal mitten im nirgendwo die Straße entlang wandern weil die unfreundlichen Fahrer nicht anhalten und bei den freundlichen die Pickupladefläche schon mit eingestaubten und winkenden Gestalten übervoll besetzt ist.
Und dann sind da die radelnden Menschen in dieser Gegend. Vom wenige Wochen Kurzurlauber bis zum seit Jahren umherziehenden Nomaden, von Ultralight bis Schwerlaster, vom Alleinreisenden bis zur mehrköpfigen Familie - die kleinsten reisen bequem im Hänger, vom Individualradler bis zum Pauschalradler, vom Wildcamper bis zum Hosteriahopper, vom begnadeten Lowtech Improvisationstalent bis zum Hightech-Highend Fetischisten, vom „das ist meine erste Tour“ bis „jedes Jahr eine lange Tour, seit 40 Jahren“ Radler, vom Brot-von-morgens-bis-abends-esser bis zum Gourmetkoch mit 5(!) Töpfen, vom schneckenlangsamen Träumer bis ambitionierten Rekordjäger, von jungen wilden bis steinalten Greisen, vom „alles ist scheiße“ Jammernden bis zu jenem entspannten der sein kaputtes Fahrrad breit grinsend 80 lange Kilometer rückwärts geschoben hat erstreckt sich das regenbogenbreite Spektrum an radelnden Persönlichkeiten. Uns verbinden die Straße und das Rad, physisch wie psychisch. Ähnliche Erfahrungen, ähnliche Strecken, ähnliche Begegnungen, ähnliche Sorgen und Probleme, eine eigene kleine Gemeinschaft. Über jede einzelne Begegnung freut man sich, tauscht Informationen, erzählt den neusten Radlertratsch, bei einem kurzen Stopp am Straßenrand, bei ein paar Kilometern zusammen in die gleiche Richtung, abends auf den „einschlägigen“ Radler-Campingplätzen. Und an diesen Treffpunkten, da erzählen die unzähligen zerbrochenen Gepäckträger, zerschlissenen Reifen, gerissenen Felgen, geplatzten Schläuche und zerstörten Rahmen ihre ganz eigene, stumme Geschichte vom Radfahren auf einer der Traumstraßen dieser Welt, der Carretera Austral.
Heinrich meint: „wär ich nicht so gerne unterwegs, ich würde umgehend auswandern. Es hapert zwar noch an ein paar Stellen, beispielsweise ist der Elch an sich und Elchdamen im Besonderen deutlich unterrepräsentiert in dieser Gegend, auch bleib ich im dichten Urwald ständig mit meinen mächtigen Schaufeln irgendwo hängen und in einzelnen Gegenden gibt’s nur trocken Gras zu futtern, dafür ist das Klima umso Elchfreundlicher, die Rotweinversorgung durchgängig gesichert und in den Regenwäldern muss man aufpassen das man von dem ganzen leckeren Grünzeug nicht fett wird. Es gehört also dringend mal eine Elchkolonie gegründet!“
Fiesta Costumbrista
[2013.03.07 02:32:15 | Chile | one comment]
Villa O’Higgins. 400 Seelen Nest am Sackgassenende der Ruta 7, der Carretera Austral. Noch tummelt sich nur eine kleine Handvoll Touristen auf der örtlichen Fiesta Costumbrista, dem Rodeo, dem Volksfest. Deutschen Volksfesten in ländlichen Gebieten durchaus nicht unähnlich: eine mittelmäßige Kapelle spielt, mittelmäßiger Kaffee, Kuchen, Bier und Snacks werden an mittelmäßigen Ständen zu unmäßigen Preisen verkauft, die Kinder springen in der Hüpfburg, den harten Alkohol gibt’s bei der Feuerwehr. Soweit so bieder, so langweilig, so gewohnt. Doch ums Eck braten am Spieß ganze Lämmer am offenen Feuer, donnern ab und an wildgewordene Pferden über den Platz, werfen Männer einen metallbeschlagenen Kuhfuß und wetten um Geld auf welcher Seite er liegen bleibt. Zu später Stunde auch mal um nicht ganz unerhebliche Summen.
Und dann sind da die jungen Wilden die sich mit den jungen, wilden Pferden messen auf der Suche nach Kick, Anerkennung und Applaus. Ungezähmte Pferden werden vor einer Tribüne an einen Pfahl gebunden und gesattelt, der junge Reiter steigt auf, hält seine Peitsche bereit. Ist das Seil gelöst wird auf das Pferd eingedroschen, mit aller Gewalt versucht das Tier den „Reiter“ ab zu schütteln, springt, bockt, hüpft, prescht unter den kritischen Augen der Besucher über den Rasen. Je wilder das Pferd, je spektakulärer der Ritt desto mehr Applaus, Ahhhs und Ohhhs von der Tribüne. Bis der Reiter abgeworfen oder nach 30 Sekunden eine Pfeife ertönt. Dann werden die meisten Pferde ruhig, sie kennen das Spiel bereits. Wer sitzen blieb kommt mit stolz geschwellter Brust zurück, andere humpeln beiseite, manch einer muss gestützt werden. Doch jeder grinst, für jeden gibt es Applaus und Anerkennung von den „alten“ Gauchos. Ist der Sieger ermittelt wird – so die Ankündigung – „der unbesiegbare“, „die Maschine“, „der alles abwerfende Hengst“ hervor geholt und angebunden. Selbstverständlich, auch der Sieger fällt lange bevor die erlösende 30-Sekunden Pfeife ertönt.
Nach der Siegerehrung Wechsel in die eigens errichtete Arena, Lasso werfen. Wieder eine Handvoll junger, wilder Pferde. Durch Schläge, Tritte und Schreie in Panik versetzt hetzten sie durch die Arena, die Männer schwingen, werfen die Seile. Liegt das Lasso um die Pferdebeine versucht der Werfer das Tier zu Fall zu bringen. Je spektakuläre – auch Saltos sind drin - desto besser, desto lauter der Applaus und die Rufe von der Tribüne.
Abends zum Tanz in die Gemeindehalle. Hier spielt sich ein sonderbares wenn auch praktisches Ritual ab. Die Band spielt ein Lied an und ein paar Takte lang bleibt die Tanzfläche leer. Komplett leer. Wie auf ein geheimes Zeichen springt dann Jung und Alt – zumindest die absolute Mehrheit - in die Mitte und tanzt als hätten sie nie aufgehört zu tanzen. Erklingt die letzte Note stürzt jeder –wirklich jeder – zurück zum Tisch, nimmt das unterbrochene Gespräch, das abgestellte Glas oder die abgelegte Zigarette wieder auf, spricht, trinkt und raucht als sei nichts gewesen. Bis nach einer angemessenen Pause die nächsten Takte des nächsten Liedes erklingen.
Heinrich meint: „mmhhhhpppffmhlpmürgelbrümpf“
(Zur Erklärung: als internationaler Verfechter der Elchrechte fühlte sich Heinrich durch den Umgang mit den Pferden natürlich auch persönlich angegriffen. Nach ersten erfolglosen Versuchen des Protests (Flyer verteilen – wurden zum anfeuern des Asados verwendet, Sitzblockade – man ging halt außen rum so groß ist er nun auch wieder nicht, Hungerstreik – schallendes Gelächter als Heinrich nach 10 Minuten zum Heu griff und Protestgesängen – die schwedische Sauflieder wurden mitgegrölt) entschied Heinrich das die Zeit des gewaltlosen Widerstandes vorbei und es Zeit für „ordentlichen“ zivilen Ungehorsam sei. Mit einer Kiste „Pisco“ (Destillat aus Traubenmost) bewaffnet zog er sich zum Molotow Cocktail bauen zurück und wurde einige Stunden später schwer betrunken, mit Brandflecken im Fell marodierend im Pferdestall von der Gendarmerie aufgegriffen. Die Anklage beinhaltete unter anderem Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung, Exhibitionismus, Trunkenheit, Landfriedensbruch, Beamtenbeileidung, versuchte Körperverletzung und einiges mehr. Nachdem er den Beamten die Ohren blutig gelabert hat, wurde er mir aber unter der Bedienung den Knebel „ein paar Tage“ drin zu lassen tags darauf außerhalb der Stadtgrenze übergeben.)
Am Rande: der Umgang mit den Tieren war für mein europäisch geprägtes Verständnis von Tierschutz und Tierhaltung größtenteils unverständlich, oft erschreckend. Dennoch möchte ich mir aufgrund fehlender Sprach- und Kulturkenntnisse und als eingeladener bzw. geduldeter Fremder nicht anmaßen darüber zu urteilen sondern nur zu beobachten. In ein paar wenigen Gesprächen äußerte ich vorsichtig meine Meinung und stieß nicht immer auf Verständnis. Einer der klügeren Gesprächspartner zog den Vergleich zur europäischen Massentierhaltung wo der Platz pro Tier mit wenigen Quadratmetern (mit Glück…) bemessen wird, wohingegen hier unten eher in Hektar gerechnet wird. Ganz Unrecht hat er nicht.
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