Tour de France - Weihnachtsaugabe
[Text & Fotos: Stefan Böhm]
Sonntag, 23.12.2007
Um 7 Uhr stehe ich auf, packe endgültig zusammen. Das Gepäck bringt knappe 32kg auf die Waage, das Rad 16kg und ich 78,5kg. Um kurz vor 10 Uhr heißt es Tür zu, auf 's Rad und los.
Meine Eltern wohnen im gleichen Ort, ich habe ihnen versprochen auf einen Kaffee vorbei zu kommen. Sie scheinen erst jetzt wirklich zu glauben, dass ich ernsthaft mitten im Winter mit dem Rad eine Woche durch Frankreich radeln möchte.
Kalter Nebel liegt über Bad Krozingen (bei Freiburg) als ich durch den Ort radel. Ungläubige Gesichter schauen mir nach, Minus 2 Grad und eine vermummte Person auf einem vollbepackten Rad scheinen die meisten Leute doch etwas zu verwirren…
Nach einem angenehmen Start erreiche ich zügig die Brücke über den Rhein, ab hier beginnt für mich "Neuland"; bisher war ich in Frankreich eher mit dem Auto auf den Hauptstraßen unterwegs.
Die schnurgerade und -Sonntags dankenswerterweise - sehr wenig befahrene Straße durch das malerisch gelegene Industriegebiet, einschließlich Atomkraftwerk westlich des Rheins, lädt zum Scheuklappen aufsetzten und Kilometerfressen ein. Sehr zügig bringe ich diese Strecke hinter mich und bin froh als ich nach Westen auf schmale Straßen durch kleine Wälder abbiegen kann.
Südlich von Mulhouse geht's durch hügelige Landschaft, die Sonne hat sich mittlerweile einen Weg durch den Nebel gebahnt: so macht es Spaß! Autofahrer hupen mir zu oder heben den Daumen wenn sie mich überholen, scheint ein fahrradverrücktes Völkchen zu sein, die Franzosen.
Ein paar Stunden und Müsliriegel später, mach ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Auf der Karte habe ich ein kleines Gebiet mit Seen entdeckt, durch das nur eine sehr kleine Straße führt. Sieht Ideal aus, zumal ich noch kein Wasser für Abendessen und Frühstück "getankt" habe.
Bergauf fahre ich den Seen auf der Karte entgegen, bis ich den ersten entdecke: ein Forellenteich! Da möchte ich dann doch lieber nicht draus trinken, wer weiß, was da so zur Zuchtoptimierung rein kommt. Gut, ich werde vermutlich die nächsten 3 Jahre nicht mehr krank werden, aber das Risiko, dass mir irgendwelche Flossen wachsen, ist mir dann doch zu groß. Ich fahre weiter und weiter, einen Chemieteich (Sorry, aber die sehen alle nicht wirklich natürlich aus…) nach dem anderen lasse ich links liegen, es wird später und später. Natürliche Zuflüsse scheinen nicht zu existieren. Irgendwann komme ich in einen menschenleeren Ort. Der Bach durch den Ort steht den Teichen in nichts nach, auch hier will ich lieber nicht meine Vorräte auffüllen. Eine ältere Dame bringt schließlich die Erlösung. Bei ihr darf ich meine Flaschen auffüllen, Deutsch kann sie auch. Leider liegen die schönsten Zeltplätze weit zurück, so mache ich mich in beginnender Dunkelheit auf und suche weiter einen passenden Platz für die Nacht.
Gesucht - gefunden. Kaum steht das Zelt, ich möchte gerade den Kocher anwerfen, kommt ein massiger älterer Franzose mit Warnweste und Schrotflinte auf mich zu. Wortlos lädt er zwei Patronen in die Kanone und fixiert mich mit seinem Blick. Keine Ahnung was der will, ich hebe langsam die Arme. Doch ich scheine nicht ganz seinem Beuteschema zu entsprechen, er fängt an zu grinsen und flüstert "hunting". Na spitze, ich sitze mitten in einer Treibjagd! Nur gut, dass mein Zelt knallrot ist. Ich bleibe still sitzen und hoffe dass die Jäger das Zelt nicht für was Essbares halten.
Zwanzig Minuten später ist der Spuk vorbei, eine Horde Jäger überlässt mich wieder der Einsamkeit, wünschen mir noch einen schönen Abend und gehen ihres Weges.
Endlich Essen. Gestärkt bringe ich noch mein Tagebuch auf Vordermann und trage die "Eckdaten" des Tages ein:
94 Km, 4 Stunden und 40 Minuten auf dem Rad, 20km/h Schnitt. "Nicht schlecht für den Anfang" denke ich mir und falle früh in einen tiefen Schlaf.
Montag ,24.12.2007
Gegen halb acht krieche ich aus dem Schlafsack, langsam durchbricht die Dämmerung die kalte Nacht. Kaffe und Frühstück bringen den Kreislauf in Schwung, das Abbrechen des Camps geht leider noch ein bisschen länger und so schwinge ich mich erst gegen halb 11 in den Sattel. Es geht mehr auf und ab als ich gedacht hatte, dafür wird die Landschaft mit jedem überwundenen Hügel schöner.
Die Sonne erwärmt langsam aber sicher die Welt, die Temperaturen aber bleiben einstellig.
Ich wähle einen kleinen Abstecher durch die Schweiz. Hier finde ich an jedem noch so kleinen Weg ein kleines Hinweisschild wohin der Weg führt, die Karte kann ich beiseite legen. Auf herrlich kleinen Wegen, ohne jeden Autoverkehr, finde ich meinen Weg zurück nach Frankreich.
Auf der Karte entdecke ich ein sehr enges Flusstal, da muss ich hin! Ein ordentlicher Anstieg steht im Weg. Langsam, aber gleichmäßig, trete ich einen Höhenmeter nach dem anderen weg und passiere schließlich den höchsten Punkt. Ab sofort bergab! Noch einen Schluck Wasser, einen Schokoriegel und ich überlasse mein Rad der Schwerkraft. Schnell erreiche ich Saint Hippolyte - ein kleines Dorf das sich von steil abfallenden Felsen umrahmt in die Schlucht quetscht.
Den Entschluss, nicht auf dem Berg gecampt zu haben bereue ich jetzt. Inversionswetterlage: die warmen Schichten oben, die kalten unten. Im Tal bleibt das Thermometer bei Null, auf dem Berg waren es um die 9°!
Ich verlasse zügig den Ort, um mir in der Schlucht einen Platz zum Campen zu suchen. An einem kleinen Bach finde ich einen herrlichen versteckten Platz für mein Zelt, zwar nahe an der Straße, aber von dort nicht zu sehen. Ein paar Meter weiter ein Heuballen. Heu unterm Zelt isoliert wunderbar und macht aus einer einfachen Therm-a-Rest eine Luxusmatratze. Weihnachten auf Heu gebettet - sehr passend...
65 Km, gute 4 Stunden Straße unterm Rad, 16km/h Schnitt, die Höhenmeter machen sich ziemlich bemerkbar, insbesondere mit dem Gepäck.
Ein Blick auf das Thermometer verspricht eine kalte Nacht. -7 Grad im Zelt, feucht. Trotzdem verbringe ich eine wunderschöne und erholsame Nacht im Schlafsack.
Dienstag, 25.12.2007
Mit Raureif überzogen begrüßt mich das Tal am Morgen. Ich schlängele mich weiter den Fluss entlang durch das herrliche Tal. Links und rechts immer wieder steile Felsabbrüche, gefrorene Wasserfälle direkt an der Straße. Trotz intensiver Suche finde ich keine Eiskletterausrüstung im Gepäck. Verdammt, das wär hier ein Spaß!
Irgendwann finde ich einen Fleck, der von der Sonne angestrahlt wird. Das ganze Tal liegt im Winter im Schatten, die Sonne kommt nicht hoch genug. Ich brauche eine längere Pause, um insbesondere meine kalten Zehen wieder auf Betriebstemperatur zu massieren.
Ich biege ab in ein noch engeres Tal, die Straße drückt sich an den Hang, es geht immer weiter bergauf. Plötzlich weitet sich das Tal zu einem Kessel, steile Wände rundherum, unten ein kleines Kloster. War im Mittelalter vermutlich eine uneinnehmbare Zufluchtsstätte; die Landschaft ist beeindruckend. Die Straße folgt einem kleinen Bach und ich stehe unvermittelt auf einer Hochebene. Die Sonne scheint mir ohne Hindernis in 's Gesicht, doch im Süden tauchen langsam Schleierwolken auf.
Über langweilige Straßen weiter in südwestliche Richtung. Den Schildern am Straßenrand zufolge besteht hier die Industrie hauptsächlich aus Pferdezucht und Weihnachtsbäumen - naja, letztere dürften gerade Hochkonjunktur haben…
Alles ist eingezäunt, nirgends auch nur ein Fleck, der sich für ein Nachtlager anbietet. Ein netter, Englisch sprechender Franzose lässt mich Wasser tanken und hat einen Tipp parat: Nur wenige Kilometer weiter sei ein großer Wald, an dessen Rand sich wunderbar Campen ließe. Recht hat er!
Von Bäumen umgeben, stelle ich das Zelt mitten auf eine kleine Lichtung, die Straße zwar noch in Hör-, aber außer Sichtweite.
70km, knapp 4 Stunden im Sattel, gut 18km/h Schnitt lassen mich mal wieder früh in die Kunstfasern meines Schlafsacks schlüpfen. Die Temperaturen tun ihr übriges.
Mittwoch, 26.12.2007
Der Morgen meines Geburtstages empfängt mich bedeckt und kühl. Ich bin gerade fertig mit Frühstücken und will anfangen zu packen, als es anfängt auf mein Zelt zu tröpfeln. Ach Mist! Sehr schnell wird aus Regen Graupel, noch schneller wird daraus Schnee. Binnen kürzester Zeit liegt die Welt versteckt unter 5cm Neuschnee. Besser als Regen, Schnee lässt sich abklopfen! Ich packe alles im Zelt zusammen und starte später als sonst. Es schneit weiter und die Straße empfängt mich ohne eine einzige Spur. Schneekristalle fliegen mir ins Gesicht, der Bart gefriert, vor mir jungfräulicher Schnee, hinter mir die einsamen Abdrücke meiner Reifen. Ich liebe solche Momente!
Irgendwann überholt mich der Schneepflug: Ungläubig schüttelt der Fahrer den Kopf, reckt aber zur Ermunterung den Daumen nach oben.
In einem Ort versorge ich mich mit Geburtstagskuchen in Form von Pain au Chocolat, auch ein bisschen Brot kaufe ich ein. Irgendwann habe ich gehört, dass pain complet das französische Vollkornbrot sein soll. Später stelle ich fest, dass das Brot eigentlich nur Baguette mit braunen Punkten ist, das mit dem vollen Korn scheint sich noch nicht herumgesprochen haben. Ich finde die "englische" Übersetzung mit "kompletter Schmerz" passender und halte mich in Zukunft an das, was die Französischen Bäcker wirklich können: Baguette und Croissants.
Von der geräumten, aber mittlerweile viel befahrenen Hauptstraße biege ich ab in einen "Foret National" - dem Naherholungsgebiet von Levier. Bedeckt von einer frischen Schneeschicht, zeigt sich der Wald von einer beinahe märchenhaften Seite. Auf wunderbaren Sträßchen bewege ich mein Rad durch den Wald, Bank und Tisch laden zu einer Pause ein. Nur Vogelzwitschern dringt bis zu mir. Nach heißem Tee und Pain au Chocolat bin ich gestärkt genug um mir weiter den Weg durch die Neuschneedecke zu pflügen. Schnee setzt sich überall am Rad fest, Bremsen und Schaltung sind nicht mehr zu erkennen. Erstaunlicherweise braucht aber nur ab und zu der Umwerfer ein paar freundliche Worte bis er sich dazu überreden lässt, die Kette hoch oder runter zu wuchten, der Rest läuft wie geschmiert.
Ich lasse den Wald hinter mir, mangels Alternativen ein paar Kilometer über Hauptstraßen an Champagnole vorbei. Dank der Feiertage scheinen aber verhältnismäßig wenige den Weg nach draußen gefunden zu haben und so kann ich sogar auf den "roten" Michelin Straßen ohne größere Probleme radeln.
Für die Nacht finde ich einen kleinen Platz an einem Stauwehr. Das gleichmäßige Plätschern singt mich abends in den Schlaf und Jäger scheint es hier auch keine zu geben…
60km, 3 Stunden 30 Minuten reine Fahrzeit, gut 17km/h Schnitt notiere ich abends in mein Büchlein, ich bin ein bisschen erstaunt wie gut es trotz der verschneiten Straßen gelaufen ist.
Donnerstag, 27.12.2007
Eine dünne Eisschicht überzieht mein Zelt, die Schuhe sind feucht von der gestrigen Schneetour. Die Sonne kommt morgens zwar heraus, verfehlt aber mein Zelt um ca. 10 Meter, da steht doch tatsächlich ein Berg im Weg. Ich verfluche Geologie und Astronomie. Nur mit Fäustlingen an den Händen kann ich das Zelt abbauen. Die Luft ist durchzogen von feinsten Eiskristallen, wieder brauche ich bis nach 10 Uhr um in den Sattel zu kommen.
Langweilig und eben führt mich die Strecke fast schnurgerade nach Süden. Die Sonne hat beschlossen zu schmollen, versteckt sich hinter einer dicken Wand aus Wolken und Nebel. Ich sollte morgens wohl weniger fluchen.
Nach einigen Kilometern halte ich an, ziehe meine in Plastiktüten steckenden Füße aus den feuchten Schuhen. Weiß und gefühllos sind die Zehen, es dauert fast eine viertel Stunde bis der ersehnte Schmerz die wiederbelebte Durchblutung anzeigt. Ich hatte den Fehler gemacht, mir die Schuhe zu fest zu binden; Kälte, Wind und Feuchtigkeit haben Ihr übriges getan. Seitdem begleitet mich ein Kribbeln in den Zehenspitzen, ganz vorne am rechten Fuß. Hat man davon.
Ich komme dem Lac du Vouglans näher, sieht auf der Karte nach einer wunderschönen Gegend aus. Leider ist die Sonne immer noch sauer und so geht es bei 20m Sicht langsam aber stetig eine Hügelkette westlich des Sees hinauf. Immerhin sieht man dann nicht wie weit und steil die Steigung noch ist.
Irgendwann fällt vor mir die Straße steil bergab und schnell bin ich 250 Höhenmeter weiter unten am See. Von hier an geht's direkt an der Ain entlang. Wieder begleiten mich steil abfallende Felsen links und rechts der Schlucht, eine herrliche Landschaft!
Für meine bescheidene Stoffhütte finde ich einen wunderschönen Platz auf einer Wiese nahe am Fluss, sichtgeschützt durch Büsche. Auf der gegenüberliegenden Seite gehen ein paar Jäger ihrem tödlichen Handwerk nach, Hunde bellen, Schüsse fallen. Leider bringt mir keiner eine frische Rehkeule. Derweil köchelt eine Tüte gefriergetrocknete Nudeln mit irgendwas Soße im Topf, klein gewürfelte Salami darin und in kurzer Zeit verschwindet die "2 Portionen Packung" in einem hungrigen Radler.
72km, 3 Stunden 50 Minuten strampeln, knapp 19 km/h Schnitt, die Bilanz des Tages bevor ich mich endgültig in den Schlafsack begebe.
Freitag, 28.12.2007
Auch heute bleibt mein Zelt im Schatten, dafür ist die Luft etwas wärmer und erleichtert mir den Aufbruch. Zügig radel ich los, vorbei an beeindruckenden Wänden, hier beginnt die Französische Jura. Ich bin kurz davor meine Pläne nach Süden zu fahren zu vergessen und weiter in Richtung Jura vorzustoßen, stelle aber fest, dass ich für die Gegend keine Karten dabei habe und verwerfe den Plan wieder.
Das Tal weitet sich langsam, die Besiedelung wird dichter und ich spüre langsam, dass ich mich dem Großraum Lyon nähere. Die Landschaft wird flacher, ich kann von einem Ortsschild zum anderen sehen.
Unterwegs stelle ich beim Bremsen am Hinterrad einen leichten Schlag fest. Naja, ein Achter. Schauen wir heut Abend mal.
Mein Plan direkt an der Rhone zu campen wird durch ein "kleines" Atomkraftwerk vereitelt. Nicht mal bis an den Fluss komme ich an dieser Stelle. Ich muss weiterfahren und finde keine kleinen Sträßchen.
Eine Hauptstraße bleibt als einzige Alternative in den nächsten Ort. Hier gibt's eine Brücke über die Rhone und ich hoffe einen Rad- oder Fußweg an deren Seite zu finden. Fehlanzeige. Während bei meinem Heimatort noch jeder kleine Fluss begradigt und durch einen Radweg (meist sogar beidseitig) gesäumt sein Dasein fristet, findet sich hier nicht mal ein Feldweg am Fluss. Nun ja, wenigstens bleibt er so weitestgehend in seinem natürlichen Bett. Allerdings glaube ich nicht, dass das Atomkraftwerk flussaufwärts der Natürlichkeit besonders zuträglich ist…
Es wird immer später und langsam werde ich nervös. Blind fahre ich eine Straße entlang von der ich glaube, dass sie in Richtung Fluss führt. Irgendwann hören die Häuser auf, irgendwann hört die Straße auf und wird zu einem kleinen Feldweg. Ich fahre weiter und finde mich unversehens direkt an der Rhone! 5m oberhalb einer Sandbank, wunderschön gelegen und weit genug weg von den letzten Behausungen.
Ich wuchte meine Ausrüstung den Hang an den Fluss herunter und stelle mein Zelt auf gefrorenen Sandboden. Ein kleines Feuer aus Treibholz wärmt Körper und Seele, der Frust der letzten Kilometer durch eng bebautes Gebiet fällt von mir ab.
95km, 4 Stunden 30 Minuten Helm auf, 20 km/h Schnitt bilden die "technischen Daten" eines Tages, an dem ich etwa die Hälfte der Strecke durch - ehrlich gesagt - grottenhässliche Dörfer gefahren bin. Ich studiere bis spät in den Abend die Karte, um mir eine schönere Strecke für den nächsten Tag zu suchen.
Samstag, 29.12.2007
Die Sonne geht wunderschön über der Rhone auf, das Zelt leuchtet hell am Wasser. Eine dünne Eisschicht überzieht innen und außen die Nylonbahnen. Leider ganz schön feucht so direkt am Fluss. Bei wunderschönem Licht mache ich mir gemütlich Frühstück, packe meine sieben Sachen und schwinge mich spät, aber sehr erholt in den Sattel. Meine gestern ausgetüftelte Route führt mich noch ein paar Kilometer durch triste und flache Agrarlandschaften bevor es endlich wieder ein paar Hügel gibt. Die Landschaft wird spannender, die Ortschaften weniger, dafür der Wind mehr. Zum ersten Mal auf der Tour wird es richtig windig, natürlich direkt von vorne. Ich fahre weiter in ziemlich direkt südlicher Richtung. Während einer Abfahrt macht sich beim Bremsen der Schlag im Hinterrad wieder bemerkbar. Ich muss unbedingt heute Abend daran denken und danach schauen.
Sehr schmale Straßen führen mich durch kleine, typisch französische Ortschaften. Typisch scheint auch die Weihnachtsdekoration zu sein. Zum "guten Ton" gehören mindestens zwei Lichterketten, ein Weihnachtsmann, der an einem Seil die Fassade des Hauses hochklettert (wahlweise auch Balkon oder Fenster) und ein paar nett verpackte Geschenkkartons. Wer etwas auf sich hält, stellt im Vorgarten noch einen Schlitten inkl. Weihnachtsmann, Geschenkkartons und Rentier sowie einen Plastikschneemann auf.
Den Gewinner meines kleinen Wettbewerbs "der schlimmste Weihnachtskitsch" finde ich hier, südwestlich von Lyon, in einem Ort mit gerade einmal 7 Häusern. Auf einem sehr gepflegten Rasen (im Gegensatz zu seinem Haus, das wäre in Deutschland vermutlich vom Bauamt wegen Einsturzgefahr geräumt worden) sehe ich 4 Schlitten mit Geschenken überhäuft, Weihnachtsmann drauf und von je sechs Rentieren gezogen, 5 Plastikschneemänner (beleuchtet), ungezählte "Leuchtschläuche", sieben oder acht kletternde Weihnachtsmänner (oder hatte der Besitzer mit den Seilen nur das Dach angebunden?), einige Tannen unter "voller Beschmückung" und als Krönung ein aufblasbares und beleuchtetes Plastikiglu mittendrin.
Nur mit schaffe ich es nicht über seinen Zaun zu kotzen.
Ich finde einen schönen Camplatz am Waldrand. Die warme Luft hat die Eisschichten vom Morgen mittlerweile in Wasser und das Zelt in einen feuchten Tempel verwandelt. Gut, dass der Wind noch bläst! Beide Eingänge auf, das Zelt in den Wind stellen, gemütlich essen - ist das Teil wieder trocken. Es lebe das High Tech Equipment. Dummerweise beginnt jetzt die Feuchtigkeit von oben. Regen trommelt rhythmisch auf das Zelt, ich mache "Schotten dicht", froh darüber, dass zumindest innen wieder alles trocken ist.
60km, 3 Stunden 40 Minuten singende Reifen, 16 km/h Schnitt lese ich vom Tacho. Mit dem Gedanken am anderen Morgen unbedingt nach dem Schlag im Hinterrad zu schauen, begebe ich mich in das Reich der Träume.
Sonntag, 30.12.2007
Auch heute weckt mich die Sonne, ich trödele ein bisschen vor mich hin. Als ich anfange zu packen bringt mich einsetzender Regen dazu, meine Trödelei zu beenden. Ich schau kurz das Hinterrad an, kann aber auf die Schnelle keinen gravierenden Achter oder sonstwas entdecken und lade meine Taschen auf.
Hügelig geht es weiter, mal begleitet durch Nieselregen, mal durch starken Regen, selten durch Trockenheit. Trotzdem ist es einigermaßen angenehm, Jacke und Handschuhe schützen mich gut.
Nach einer Abfahrt untersuche ich genauer mein Hinterrad, die Schläge beim Bremsen sind stärker geworden. Ich entdecke eine Beule an der Felgenflanke. Ich überlege hin und her, entschließe mich aber weiter zu fahren. Ich möchte heute noch ca. 60km fahren, morgen nur noch ca. 20 bis zu einem größeren Bahnhof und von dort per Zug nach Marseille. Ich packe ein bisschen um, stelle die Bremse ein wenig weiter auf, damit nichts schleift und nutze nur noch die vordere Bremse.
20 km weiter ist das Experiment gescheitert, die Felge hinüber. Fluchend hüpfe ich um mein Rad herum. Trotz komplett ausgedrehter Verschleißschraube an der Bremse schleift die Beule bei jeder Umdrehung am Bremsklotz. Das Ding bricht bald. Ich rufe im Hostel in Marseille an und frage ob ich eine Nacht früher kommen kann. Kein Problem. Gut. Nächster Ort mit vernünftigem Bahnanschluss: 40 km. Nicht gut. In einem Restaurant schildere ich mein Problem, doch sie haben weder einen Transporter noch kennen sie jemanden mit einem großen Auto. Dafür aber die Nummer des örtlichen Taxifahrers. Na gut. Mir bleibt ja nichts anderes übrig, auch wenn's teuer wird. Ein Mann vom Restaurantservice wittert ein Geschäft und bietet mir eine komplette Felge, eingespeicht, mit Kassette und Schwalbe Spikereifen zum Kauf an. Er nennt den Preis. Dann warte ich doch lieber auf ein Taxi. Zumal ich noch Garantie auf die Felge habe und ich für den genannten Preis vermutlich per Taxi bis direkt nach Marseille und nach Deutschland zurück fahren könnte…
Gegen 19.30 Uhr erreiche ich das Hostel in Marseille, ich bin aufs Positivste überrascht! Sehr schöne Zimmer, sympathisches Personal und sofort umschließt mich eine angenehme Atmosphäre. Nach einer Dusche ziehe ich durch die Stadt und lasse mich in einer kleinen Brasserie nieder. Man serviert mir herrlichen Rotwein und einen Snack. Zurück im Hostel unterhalte ich mich bis spät in die Nacht mit ein paar Leuten, zusammengewürfelt aus einigen Ecken der Erde.
32 Km, 1 Stunde 40 Minuten auf einem holpernden Hinterrad, 18 km/h Schnitt stehen am Ende einer Radtour und am Anfang einer neuen Leidenschaft. Das war nicht die letzte Radtour solcher Art. Mit Sicherheit nicht.
Montag, 31.12.2007
Trotz wenig Schlaf bin ich gewohnheitsmäßig früh wach. Bei einem French Breakfast in der Lobby lerne ich einen Schweden kennen und wir beschließen eine Runde durch Marseille zu drehen. Sightseeing, Cafes, Fotos und etwas Essen lassen die Zeit vergehen. Mittags zurück im Hostel packe ich meine Sachen soweit, dass ich in Ruhe Sylvester feiern kann. Ab ca. 17 Uhr beginnen wir (eine bunt gemischte Gruppe aus Franzosen, Japanern, Amerikanern, Schweden und was weiß ich noch alles) die Weinvorräte des Hostels empfindlich zu schmälern. Das Personal hat einige Freunde eingeladen und fast alle Bewohner beschließen den Jahreswechsel im Hostel zu feiern. Keiner bereut es. Bis tief in die Nacht wird getrunken, gefeiert, diskutiert, erzählt und gelacht. Weltoffene Menschen aus aller Welt, die zusammen in ein neues, spannendes Jahr feiern - was gibt es schöneres?
An dieser Stelle: Greetings to all the visitors and the staff of Vertigo!
Viel zu Spät krieche ich in mein Bett und brauche doch fast eine halbe Stunde um einzuschlafen.
Dienstag, 1.1.2008
Ich hatte mir am Vortag am Bahnhof das Bahnticket besorgt und besteige um 12:30 Uhr den Zug in Richtung Heimat.
Hätte ich mir das Ticket selbst besorgt und mich nicht auf die Schalterdame verlassen, wäre ich ca. 4 Stunden früher, etwa 50 € reicher und sehr viel weniger gestresst zuhause angekommen. Eine Erfahrung, auf die ich gerne Verzichtet hätte, aus der man aber lernen kann…
Keine Ahnung wie viele Kilometer, fast 11 Stunden Zugfahrt, 153 € ärmer und die Erkenntnis, dass Bahnpersonal wohl doch eher unflexibel ist.
Trotz der 2 Abende in Marseille mit reichlich Essen und Trinken, zeigt meine Waage abends zuhause nur noch 74 kg an. Fahrradfahren im Winter verbrennt doch ordentlich…
Epilog 2.2.2008
Meine Wohnung sieht aus wie ein explodiertes Outdoorgeschäft. Ein Teil nach dem anderen wird gesäubert, getestet, verstaut. Leider muss ich sofort wieder anfangen zu arbeiten, bis tief in die Nacht versorge ich abends meine Ausrüstung. Das Radgeschäft tauscht schnell, zügig und unkompliziert die kaputte Felge, nach einer Generalüberholung am folgenden Wochenende kann ich wieder mit dem Rad zur Arbeit und das Auto wieder abgeben.
Was bleibt, sind tiefe Eindrücke der Landschaft, die wundervolle Art des Reisens per Rad, das Kribbeln in den Zehenspitzen und einer der schönsten Jahreswechsel, die ich erleben durfte.
Info
verwendete Ausrüstung
Im Winter länger mit dem Fahrrad unterwegs zu sein ist ein besondere Erfahrung, erfordert aber auch eine Anpassung an die Witterung. Nicht nur an warme Kleidung sollte man denken, ein großes Problem kann die Wasserversorgung darstellen. Gerade in dünn besiedelten Gegenden trifft man nicht immer auf einen funktionierenden Wasserhahn. In den üblichen Flaschen kann es schnell mal zu Eiswürfeln kommen.
Nicht zu unterschätzen ist die kurze Zeit mit Sonnenlicht. Streckenlängen und Fahrzeiten vom Sommer kann man getrost ignorieren - sie sind kaum zu schaffen.
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